Hierarchie = keine Augenhöhe?

Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg ist Geisteshaltung und Werkzeug, um empathisch zu kommunizieren, Konflikte zu deeskalieren und Beziehungen auf Augenhöhe zu gestalten. Gerade in der Pädagogik sehe ich einen riesigen Wert in ihrer Anwendung (vgl. Bindungspsychologie, Forschung zum Mentalisieren) und auch Besonderheiten, die sich aus der Natur dieses Settings ergeben. Welche Besonderheiten das sind wird im folgenden Beitrag beleuchtet.

1. Asymmetrische Machtverhältnisse

Pädagogische Beziehungen sind per se asymmetrisch. Erwachsene tragen Verantwortung für das Wohl und die Entwicklung der Kinder, was manchmal auch bedeutet, dass sie Entscheidungen treffen (müssen), die nicht im unmittelbaren Einklang mit den Bedürfnissen des Kindes stehen.

Beispiel: Ein Kind möchte keine Jacke anziehen, draußen hat es aber unter 10 Grad. Die Bedürfnisse des Kindes („Autonomie“) und die Fürsorgepflicht („Gesundheit“) kollidieren.

à Wo ein Kind die Konsequenzen für sein Handeln noch nicht vorhersehen oder die Zusammenhänge begreifen kann braucht es deine stellvertretende Kraft als Pädagogin (Hahn, 2007). Sie wird immer dann gebraucht, wenn ein Bedürfnis des Kindes, für das du verantwortlich bist (hier: Gesundheit) über seinem Bedürfnis nach Autonomie steht. Es braucht dazu viel Feingefühl und Empathie, da das Kind vermutlich Gefühle der Ohnmacht (=“ich bin jetzt ohne Macht“) erlebt. Wichtig ist, dass du Klarheit hast, warum du die stellvertretende Kraft einsetzt und das dem Kind auch so vermittelst. Tue dies mit den Gedanken, dass du zwar seinen Willen respektierst, ihm jetzt jedoch nicht nachkommen kannst.

So kannst du z.B. sagen: „Keine Jacke anzuziehen geht heute leider nicht, weil es zu kalt ist. Ich hätte Angst, dass du dich erkältest, und dann tagelang nicht spielen kannst. Du kannst aber aussuchen, ob du die blaue oder die rote Jacke anziehen magst. Welche möchtest du lieber?“

Du siehst, dass in dem Beispiel das Kind zwar nicht entscheiden darf, ob es eine Jacke anzieht, aber dafür welche. So kann es trotz des Anwendens der stellvertretenden Kraft autonom Mitentscheiden. Das kann eine wundervolle Brücke in solchen Momenten sein. Nimmst du wahr, dass es noch mehr braucht, schenke Empathie:

„Da ärgerst du dich jetzt, weil du gerne selbst entschieden hättest, oder?“ … „Das verstehe ich. Ich entscheide auch gerne für mich. Du kannst jetzt entscheiden, ob du lieber die rote oder die blaue Jacke anziehen magst. Welche möchtest du?“

Präventiv kannst du im Alltag ganz bewusst dafür sorgen, dass das Bedürfnis der Kinder nach Autonomie genährt wird. Zum Beispiel, dass sie sich aktiv im Morgenkreis einbringen dürfen, bei der Spielzeit selbst mitbestimmen können etc. So bekommen sie die Möglichkeit, Dingen für sich zu entscheiden, die sie selbst schon absehen können und erleben mit einer höheren Wahrscheinlichkeit weniger Frustration in Momenten, in denen sie das nicht können.

Mehr dazu findest du im Buch „Die Superkraft der liebevollen Führung“ von Dr. Martina Stotz und Kathy Weber (Stotz & Weber, 2023).

2. Unrealistische Erwartungen an Kinder

GFK setzt ein gewisses Maß an Selbstreflexion und sprachlicher Ausdrucksfähigkeit voraus. Das sind Fähigkeiten, die Kinder im Laufe ihres Lebens entwickeln. So muss auch ihr Wortschatz für Gefühle und Bedürfnisse erst wachsen.

Der Anspruch, dass Kinder „gewaltfrei kommunizieren“ sollen, ist daher unrealistisch und auch wenig dienlich. Dennoch macht es Sinn, auch schon mit ganz kleinen Kindern gewaltfrei zu sprechen und vor allem die Haltung der GFK einzunehmen (mehr dazu hier). Einerseits, weil die Stimmung einer Botschaft auch ohne Worte transportiert wird und andererseits, weil sie so die Gelegenheit zum Ausbau ihres Wortschatzes bekommen. Auch was Gefühle und Bedürfnisse betrifft – dies ist einer der ersten wichtigen Entwicklungsschritte, um später gewaltfrei sprechen zu können. Apropos „mit Kindern gewaltfrei sprechen“: du kannst Kinder unterstützen, indem du versuchst, ihr Erleben (in alter GFK-Manier v.A. Gefühle und Bedürfnisse) explizit zu benennen:

Kind lacht: „Ah, das gefällt dir! Da freust du dich!“
Kind stürzt und blickt dich mit großen Augen an: „Oje, da hast du dich erschreckt. Schau ich helfe dir beim Aufstehen.“
Kind stürzt und weint: „Oje, das tut weh. Ich bin bei dir.“

Kann sich das Kind schon begrenzt ausdrücken, unterstütze, indem du nicht-gewaltfreie Aussagen umformulierst. Wenn das Kind z.B. sagt „Blöde Mira.“ – kannst du, statt es zu tadeln („Sowas sagt man nicht.“), antworten:

„Ärgerst du dich gerade, weil du auch gerne mit dem Ball gespielt hättest?“

Dies sind wunderbare Gelegenheiten, sowohl die Entwicklung des Kindes zu fördern als auch eure Beziehung.

3. Systemische Rahmenbedingungen

Wir alle kennen die Rahmenbedingungen und die Konsequenzen von Personalmangel und hohen Betreuungsschlüsseln – Zeitdruck. Dieser steht dann dem Wunsch, sich einem Kind ganz zu widmen, entgegen. Zu versuchen, diesen Konflikt auf institutioneller Ebene (Kindergarten, Schule) oder sogar auf individueller zu lösen, muss scheitern. Denn ein Konflikt kann immer nur dort behoben werden, wo er entsteht.

Dennoch sind Pädagog*innen den Rahmenbedingungen nicht ausgeliefert. Es lohnt sich, als Team zu reflektieren, wie man die Bereiche, die gestaltet werden können, gestalten möchte. Welche Bedürfnisse können durch die Gestaltung des Raums, der Ablaufe und des Verständnisses von Miteinander präventiv gestärkt werden? Und zwar, welche Bedürfnisse der Kinder und der Pädagog*innen? Konkret hatte ich zuvor beispielsweise das Bedürfnis der Kinder nach Autonomie genannt.

Darüber hinaus dient die GFK jeder und jedem Einzelnen dazu, herauszufinden, was er/sie wirklich möchte und wo die eigenen Grenzen liegen.

4. Grenzen der Empathie

Empathie ist ein zentrales Element der Gewaltfreien Kommunikation.

à Empathie kann jedoch nur dann authentisch und nachhaltig gegeben werden, wenn ausreichend persönliche Ressourcen vorhanden sind. Empathie zu geben, darf daher niemals zum pädagogischen Dogma werden („Wir Pädagog*innen müssen immer empathisch sein.“). Wenn du z.B. schlecht geschlafen hast und müde bist – lasse das deine Kolleg*in wissen und versucht gemeinsam einen Weg zu finden:

„Ich habe heute Nacht schlecht geschlafen und fühle mich müde und erschöpft. Ich befürchte, dass ich Wut heute nicht so gut auffangen kann, wie sonst. Wärst du bereit das heute zu übernehmen, wenn es die Situation erlaubt erlaubt?“

Will ein Kind an dem Tag unbedingt in den Garten getragen werden, verbalisiere auch ihr gegenüber deine Grenzen:

„Heute bin ich so müde. Das ist mir zu viel. Denkst du, du schaffst es, wenn wir uns an der Hand nehmen?“

Damit gibst du dem Kind die Chance zu sehen, dass auch Erwachsene Menschen mit Gefühlen und Bedürfnissen sind – genau wie sie.

5. Manipulative Anwendung von GFK

Wie jede Methode, kann auch die GFK nicht im Sinne ihres Begründers gebraucht werden. Dies kann dann der Fall sein, wenn die Technik angewandt wird, ohne die GFK-Haltung einzunehmen – um Kinder – bewusst oder unbewusst – dazu zu bringen, zu tun, was man möchte. Dann wird möglicherweise eine „Bitte“ doch zur versteckten Forderung („Bitte mache das, sonst…“) oder Gefühle werden instrumentalisiert („Da bin ich aber traurig, wenn du…“). Aussagen wie diese ähneln zwar in ihrer äußeren Form der GFK, aber die Motivation dahinter ist weder Verbindung noch Augenhöhe; entspricht also nicht dem Geist der GFK. Mehr zur Bedeutung der GFK-Haltung findest du hier.

Fazit:

  • Die GFK kann ein starkes Fundament bindungsorientierter pädagogischer Arbeit sein – solange sie Haltung bleibt und kein Dogma wird.
  • Sie zeigt eine Weg auf, wie Pädagog*innen Kinder empathisch begleiten können, wenn Autonomie nicht möglich ist und wo Grenzen notwendig sind. So entsteht Beziehung auf Augenhöhe – trotz Hierarchie.
  • Begrenzungen durch strukturelle Rahmenbedingungen können mit GFK nicht „weggeredet“ werden.

Impulse zur Reflektion:

  • Wie kann ich das Bedürfnis der Kinder nach Autonomie präventiv im Alltag nähren?
  • Wie nähre ich meine Bedürfnisse (nach Ruhe, Erholung, Gesundheit, Spaß, Leichtigkeit, Verbundenheit, Bewegung, …) im Alltag?
  • Welche Bedürfnisse der Kinder und des Kollegiums können durch die Gestaltung des Raums, der Abläufe präventiv gestärkt werden? Wie wollen wir als Kollegium Miteinander leben?

Literatur

Hahn, B. (2007). Ich will anders, als du willst, Mama. Kinder dürfen ihren Willen haben – Eltern auch! Erfahrungen mit der Anwendung von GFK in der Familie. Freiburg: Junfermann Verlag.

Stotz, M. & Weber, K. (2023). Die Superkraft der liebevollen Führung. Kindern Orientierung, Freiraum und Grenzen schenken. Weinheim: Beltz Verlag.